Das Projekt Human
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche stellt kein neues Problem dar. Jedoch sehen sich Kinder und Jugendliche angesichts einer zunehmenden Mediatisierung von Lebenswelten, also der weiter wachsenden Bedeutung digitaler Medien im Alltag (Krotz, 2008), veränderten Risiken durch sexualisierte Gewalt ausgesetzt.
Sexualisierte Gewalt mit digitalem Medieneinsatz (sGmdM) ist dabei als Sammelbegriff zu verstehen, der sexualisierte Grenzverletzungen, Übergriffe und strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt umfasst, die durch digitale Bild-, Video-, und Kommunikationsmedien angebahnt, verübt, begleitet oder aufrechterhalten werden. Die Bezeichnung soll nicht der Annahme einer Trennbarkeit zwischen on- und offline-Realitäten Vorschub leisten. Sie drückt aus, dass digitale Medien nicht notwendigerweise Träger primärer Verletzungshandlungen sein müssen. Digitale Medien und mobile Endgeräte können gleicherweise als Lockmittel, kontextualisierendes Mittel der Intimitäts- und Beziehungsgestaltung oder als Instrument zur Aufrechterhaltung von Schweigegeboten offline angebahnter sexualisierter Gewalt eingesetzt werden.
Allmählich finden Aspekte der Mediatisierung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auch in den Handlungsempfehlungen bestehender Präventions- und Schutzkonzepte Beachtung. An entsprechenden Orientierungshilfen für die Krisenintervention, Sekundär- und Tertiärprävention fehlt es jedoch weitgehend.
Mit dem Projekt »HUMAN« haben wir uns zum Ziel gesetzt, ebensolche Orientierungshilfen zu entwickeln. Mittels empirischer Rekonstruktionen der Handlungsstrategien von Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis sowie unter Berücksichtigung des Erfahrungsexpert*innentums Gewaltbetroffener erarbeiten wir Handlungsstrategien und -prinzipien, die wir der pädagogischen Praxis in Form fallbasierter Handlungsempfehlungen kostenfrei bereitstellen werden.
Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01SR1711 von 12/2017 bis 04/2021 gefördert und durch den Projektträger Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) unterstützt.
Vorannahmen und Forschungsdesign
Dem Projekt liegen folgende Annahmen zugrunde:
1. Ein fachlich adäquater Umgang mit sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz hängt von Anforderungen ab, die sich von Fall zu Fall unterscheiden. Seine Prinzipien sind dementsprechend entlang prototypischer Beispielfälle zu rekonstruieren.
2. Ein auf Wirkforschung zielender Zugang schließt aufgrund der kasuistischen Komplexität und fehlenden Grundlagenforschung hinsichtlich eines fachlichen Umgangs mit sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz aus. Deswegen werden die Handlungsempfehlungen entlang der qualitativen-empirischen Rekonstruktion begründeten Expert*innenwissens hergeleitet.
3. Gewaltbetroffene - dazu zählen wir junge und erwachsene Menschen, denen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend widerfahren ist, Gewaltzeug*innen, Eltern deren Kinder Gewalt erlebt haben sowie andere nahestehende Personen des Bezugssystems - sind bezüglich ihrer Bedürfnisse und Anliegen bei der Initiation von Hilfen als Erfahrungsexpert*innen ernst zu nehmen. Das Forschungsprojekt ist dahingehend partizipativ ausgerichtet, dass ergänzend zur Expertise professioneller Fachkräfte, die Perspektive Gewaltbetroffener integriert wird.
Das Forschungsprojekt gliedert sich in zwei Ebenen der Erhebung, die reflexiv aufeinander bezogen werden.
Ebene 1:
In Kooperation mit spezialisierten Fachstellen, die zu Thema sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend arbeiten, erheben wir Dokumentationen von Fällen sexueller Übergriffe und Missbrauchshandlungen mit digitalem Medieneinsatz. Auf Basis der Falldokumentationen rekonstruieren wir qualitativ-empirisch 8 bis 10 prototypische Fallszenarien. Die prototypischen Fallszenarien werden in einem Folgeschritt in problemzentrierten Focus-Groups diskutiert, die wir aus Expert*innen, d.h. interdisziplinären spezialisierten Fachkräften aus den Bereichen Kinderschutz, Beratung im Kontext sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz, Krisenintervention sowie der Wissenschaft rekrutieren. Die Focus-Groups diskutieren, wie mit den exemplarischen Fallszenarien umzugehen sei und begründen ihre fachlichen Positionen. Die Auswertung der Focus-Group-Interviews bildet eine Basis der zu entwickelnden Handlungsempfehlungen.
Ebene 2:
Das Erfahrungsexpert*innentum gewaltbetroffener Menschen wird mittels leitfadengestützter Interviews erhoben. Der Fokus der Interviews liegt nicht auf dem Gewalterleben, sondern auf Anliegen und Ressourcen, die sich aus der Betroffenenperspektive in der Phase der Aufdeckung sexualisierter Gewalthandlungen mit digitalem Medieneinsatz und während der Initiation von professionellen Hilfen ergeben. Die Interviews werden in spezialisierten Fachstellen durch im Umgang mit Gewalt geschultes Personal durchgeführt, damit bei Bedarf eine Weiterberatung möglich ist. Weitere Interviews mit verbandlich organisierten Erfahrungsexpert*innen werden von Studierenden unter enger Begleitung durchgeführt.
Handlungsempfehlungen:
Zwecks Formulierung der Handlungsempfehlungen werden die prototypischen Fallszenarien, die Ergebnisse der Focus-Group-Interviews und die Ergebnisse der Interviews mit den Erfahrungsexpert*innen rekonstruktiv in eine Beziehung zueinander gesetzt. Die Auswertung des Materials erfolgt nach der Reflexiven Grounded Theory. Die Ergebnisse werden in einer Handreichung für die pädagogische Praxis dargestellt und fließen in Weiterbildungsveranstaltungen ein.
Die 4 Säulen des Projektes
Auf dem Weg der Identifikation von Handlungsbedarfen und der Ableitung entsprechender Handlungsempfehlungen begleiten uns vier Grundprinzipien, die wir als die tragenden Säulen unserer Auswertungsstrategie aber auch unserer Arbeitsweise verstehen.
